Sehr geehrter Herr Richter, sehr geehrte Frau Möbbeck,
Wir möchten uns mit diesem Anschreiben an Sie für eine Bleiberechtsregelung für geduldete afghanische Geflüchtete stark machen.
Unseres Erachtens ist eine robuste Bleiberechtsregelung für die nicht selten langjährig in Sachsen-Anhalt geduldeten afghanischen Geflüchteten schon allein mit Blick auf die von ihnen erbrachten vielfältigen und erfolgreichen Integrationsleistungen angezeigt. Darüber hinaus bestehen diesbezügliche Entscheidungsbedarfe, allerdings auch auf Grund der sich mit zunehmend prekären Sicherheitslage und drohender erheblicher Rückkehrrisiken in Afghanistan.
141 Angriffe der Taliban innerhalb von 24 Stunden im Mai, 570 getötete und 1.210 verletzte Zivilist*innen im ersten Quartal – so dramatisch war die Sicherheitslage in Afghanistan schon vor dem Abzug der NATO-Truppen. Mit dem am 1. Mai begonnenen Abzug droht sich die Lage weiter zu verschärfen. Deswegen wenden wir uns im Vorfeld der Innenminister*innenkonferenz an Sie, da es dringenden Handlungsbedarf für einen Abschiebungsstopp eine Bleiberechtsregelung und für einen schnellen und unbürokratischen Familiennachzug gibt.
Schlechte Sicherheitslage droht nach Truppenabzug zu eskalieren
Laut Informationen des Spiegel wurden von einer Delegation des Außen- und Verteidigungsministeriums die Ergebnisse einer Lagebesprechung in Kabul in einem 20-seitigen Geheimbericht festgehalten. Ziel des Berichts war es, mit Blick auf den Truppenabzug verschiedene Krisenszenarien mit Notfall- und Evakuierungsplänen für deutsche Staatsbürger*innen zu entwickeln. Nach dem Bericht sind auch absolute „Worst-Case-Szenarien, wie zum Beispiel ein Bürgerkrieg mit Sturm auf Kabul [durch die Taliban] […] nicht völlig auszuschließen.“
Expert*innen des Afghanistan Analyst Networks sprechen von einem hohen Gefährdungspotential für die afghanische Zivilbevölkerung. US-Außenminister Antony Blinken äußerte gegenüber CNN ebenfalls die Befürchtung, das Land könne in einem Bürgerkrieg versinken und die erneute Machtübernahme durch die Taliban drohen.
Dramatische humanitäre Lage in Afghanistan
Auch die wirtschaftliche Situation in Afghanistan ist seit langem desaströs und hat sich durch die Covid-19-Pandemie noch weiter massiv verschlechtert. Laut dem stellvertretenden UN-Chef für humanitäre Hilfe hat sich die Zahl der Menschen in Not in Afghanistan von 9,4 Millionen Anfang 2020 auf 18,4 Millionen im Jahr 2021 verdoppelt – bei einer Bevölkerung von 40,4 Millionen. Im März 2021 befanden sich danach fast 17 Millionen Menschen in einer Krise oder einem Notstand der Ernährungssicherheit.
Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat bereits am 17. Dezember vergangenen Jahres geurteilt, dass angesichts der gravierenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan nunmehr selbst alleinstehenden jungen gesunden und arbeitsfähigen Männer grundsätzlich ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zuzusprechen ist, wenn keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Das Gericht führt aus: »Derartige Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt«.
Das Urteil stellt maßgeblich auf ein Gutachten der Sachverständigen Eva Catharina-Schwörer ab. Dieses kommt zu dem Ergebnis, dass das Risiko, an COVID-19 zu erkranken, in Afghanistan sehr hoch ist, das wenig belastbare Gesundheitssystem an seine Grenzen gebracht wird und die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie verheerend sind. Dadurch hat ein Rückkehrer selbst auf dem Tagelöhnermarkt keine realistische Aussicht, eine Arbeit zu finden, sofern er nicht vor Ort über ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt, welches ihm Zugang zum Arbeitsmarkt verschafft.
Abschiebestopp und Bleiberechtsregelung dringend erforderlich
Wenn es selbst alleinstehenden gesunden jungen arbeitsfähigen Männern in Afghanistan nicht gelingen kann, ihre existenziellen Bedürfnisse (Brot, Bett, Seife) zu befriedigen, müssen Abschiebungen nach Afghanistan insgesamt unterbleiben. Dies muss auch angesichts der oben beschriebenen katastrophalen Sicherheitslage gelten, die sich – wie dargelegt – mit dem Abzug der NATO-Truppen verschärfen wird.
Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e.V. fordert einen Abschiebestopp für Afghanistan gemäß 60 a) Abs. 1 AufenthG. Unter Berücksichtigung der zu erwartenden verschlechterten Sicherheitslage ist den Betroffenen nach Ablauf von sechs Monaten entsprechend § 60 a) Abs. 1 S. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG zu erteilen.
Über diesen Abschiebungsstopp hinaus muss es für die große Zahl ausreisepflichtiger Afghanen in Sachsen-Anhalt nachhaltige Lösungen geben. Die Folgen einer Duldung sind nicht nur ein Leben in ständiger Angst, Perspektivlosigkeit und Armut, sondern auch geringere Chancen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, in der Bildung und in der Entwicklung persönlicher Potenziale. Letztlich sind dies auch verpasste Chancen für die Gesellschaft, in der diese Menschen leben. Mit Blick auf die gemeinsame gesellschaftliche Zukunft ist es geboten, diesen Menschen jetzt eine Lebensperspektive zu eröffnen und ihnen die in einem solchen Fall anstelle von Kettenduldungen gesetzlich vorgesehenen Aufenthaltserlaubnisse zu erteilen.
Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt fordert gesichertes Bleiberecht auch für jene Afghanen, die nur mit einer Duldung in Deutschland leben oder sich seit Jahren im Asylverfahren befinden.
Doch auch Familienangehörige, die sich nach wie vor in Afghanistan aufhalten, müssen bedacht und in Sicherheit gebracht werden. Hierfür muss es auch schnelle und unbürokratische Verfahren im Inland bis hin zu den beteiligten Ausländerbehörden geben.
Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt fordert vom Ministerium für Inneres und Sport, den Familiennachzug aus Afghanistan zu ihren in Deutschland lebenden Angehörigen mit allen Mitteln zu beschleunigen und zu unterstützen.
Mit freundlichen Grüßen
Robert Fietzke, Vorstandsvorsitzender des Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt e.V.