Pressemitteilung
Magdeburg | 17.04.2020
Aufnahme von 55 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist lächerlich gering
Am kommenden Samstag landen in Niedersachsen 55 unbegleitete Kinder im Alter von 8-17 Jahren, deren Aufnahme Deutschland nach langem Gezerre zugestimmt hat. Der Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt kritisiert gemeinsam mit den Landesflüchtlingsräten und PRO ASYL diese Zahl als lächerlich gering. Die Aktion droht zu einem Feigenblatt zu verkommen für die Nicht-Aufnahme Tausender Geflüchteter, die in den Insellagern in Griechenland sich selbst überlassen sind. Eine Aufnahme, die ernsthaft Abhilfe schafft und angesichts der drohenden Corona-Pandemie Schlimmeres in den sogenannten Hotspots verhindert, muss anders aussehen.
Die langwierige Aktion wird der Öffentlichkeit dennoch als die große solidarische Geste Europas präsentiert. Schutzsuchende mit Angehörigen in Deutschland beispielsweise, die im Rahmen der Dublin-Verordnung ohnehin Anspruch auf die Überstellung hätten, stellen eine Gruppe dar, die weitestgehend bekannt und dokumentiert ist und deren Aufnahme keiner weiteren komplizierten Verfahren bedürfte. Diese Menschen bleiben außen vor, ebenso wie weitere Tausende, für deren Aufnahme Deutschland und die EU Mittel und Möglichkeiten hätten, diese einfach und vor allem zügig in anderen EU-Staaten aufzunehmen.
Landesflüchtlingsräte und PRO ASYL fordern das BMI, die Bundesländer und die EU auf, schnell und pragmatisch zu handeln.
Die Sprecherin des Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt, Stefanie Mürbe, erklärt, „die wichtige und symbolische Aufnahme von 55 Kindern aus Moria muss der Beginn einer organisierten Rettungspolitik sein, die Schließung der Lager auf den griechischen Inseln die logische Konsequenz.“
Folgende Schritte sind realistisch kurzfristig möglich:
- Evakuierung aus den Hotspots und Unterbringung der Schutzsuchenden in leerstehende Hotels in Griechenland. Die Hotels in Griechenland dürften aufgrund des lahmgelegten Tourismus noch lange leer stehen, diese Kapazitäten sind also kurzfristig verfügbar. Es ist weder realistisch noch flüchtlingsrechtlich zulässig, weiter auf den EU-Türkei-Deal zu setzen und unverändert die Abschiebung von mehr als 40.000 Schutzsuchenden von den griechischen Inseln in die Türkei zu betreiben. Die Türkei ist kein Staat, der Flüchtlingen Schutz nach dem internationalen Flüchtlingsrecht bietet, zudem ist das Land selbst massiv von der aktuellen Pandemie betroffen. Es müssen pragmatische Dauerlösungen erschlossen werden, die mit dem Asyl- und Flüchtlingsrecht in Einklang stehen: Aufnahme, Versorgung, Zugang zu einem Asylverfahren und Schutz in der EU.
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Die einzige Lösung wird auf Dauer die Aufnahme in anderen EU-Staaten sein. Deutschland als Land, das sich mit allen Kräften und breiter gesellschaftlicher Unterstützung gegen die Ausbreitung der Pandemie stemmt, ist gefordert voranzugehen. Es ist unerträglich, dass hierzulande Aufnahmeräumlichkeiten leer stehen und dennoch monatelang über Aufnahmekriterien diskutiert wird, statt zu handeln und Geflüchtete umgehend aufzunehmen.
Die Bundesregierung hat es zudem bewerkstelligt, rund 200.000 deutsche Urlauber*innen aus der ganzen Welt in organisierten Charterflügen nach Deutschland zu holen. Die Aufnahme Schutzsuchender aus den Lagern auf den griechischen Inseln dürfte logistisch keine Herausforderung sein, wenn der politische Wille da ist. Zu fordern ist, dass Geflüchtete ggf. unter Einhaltung aller epidemiebedingten Gesundheitsvorkehrungen wie Testung und Quarantänemaßnahmen nach Deutschland einreisen können.
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Schutzsuchende mit Familienangehörigen in Deutschland aufnehmen.
Die monatelange, zermürbende Diskussion um die Kriterien der Aufnahme und das Bestehen auf Dossiers aus Griechenland ist völlig absurd. Die am besten dokumentierte Gruppe sind all diejenigen, die Angehörige in Deutschland haben. Seit 2018 lehnt das BAMF Dublin-Übernahmeersuche aus Griechenland vehement ab. Knapp 1.700 solcher Ersuche aus Griechenland standen 2019 fast 1.400 Ablehnungen des BAMF gegenüber. Ein ähnliches Bild in 2018: Von 2.139 Übernahmeersuchen an Deutschland – 90% davon aufgrund familiärer Bindungen – wurden rund 1.500 abgelehnt. Dies waren also fast 3.000 Ablehnungen in zwei Jahren.
Doch bei all diesen Menschen, die so oft nur als Zahlen behandelt werden, handelt es sich um Menschen, die in den Elendslagern auf den Inseln festsitzen und aufgrund von engen Familienangehörigen einen Rechtsanspruch auf ein Asylverfahren in Deutschland haben. -
Länderaufnahmeaktionen starten.
Unzählige Kommunen in allen deutschen Bundesländern haben ihre Bereitwilligkeit zur Aufnahme signalisiert. Die Landesflüchtlingsräte und PRO ASYL fordern, den politischen Willen endlich in Handeln umzusetzen. Die Bundesländer und die Kommunen müssen in ihren Bereich all diejenigen sofort aufnehmen, deren Angehörige im jeweiligen Bundesland sind. PRO ASYL und Flüchtlingsräte verweisen auf die Bereitschaft einiger Länder, z.B. des Landes Berlin: »Wir würden uns freuen, wenn über die vorgenannte konkrete Personengruppe hinaus für weitere Menschen aus dem Flüchtlingslager Moria, die bereits familiäre Beziehungen nach Deutschland haben, eine kurzfristige Aufnahme in Deutschland geprüft wird. Und das könnte beispielsweise auch für schwangere Frauen oder beispielsweise für chronisch erkrankte Menschen gelten«, appellierte der Berliner Innensenator an den Bundesinnenminister am 14. April. Auch aus Thüringen ließ sich eine größere Aufnahmebereitschaft vernehmen. Migrationsminister Dirk Adams ließ gegenüber der dpa verlauten, dass allein sein Bundesland 200 bis 250 Menschen aufnehmen könnte.Flüchtlingsräte und PRO ASYL erwarten aber, dass Berlin und andere aufnahmewillige Länder nun nicht nur an den Bund appellieren, sondern selbst handeln.
Hintergrundinformationen zur am schnellsten evakuierbaren Gruppe
Eine Vielzahl der in Griechenland auf den Inseln festsitzenden Flüchtlingskinder hat Angehörige, die bereits in Deutschland leben und hier im Asylverfahren sind. Ihre Aufnahme ist dabei kein Gnadenakt sondern beruht auf einem Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung. Er folgt aus der Dublin-Verordnung. Nach Artikel 21 muss dabei innerhalb von drei Monaten von Griechenland aus ein sogenanntes Aufnahmegesuch an Deutschland gestellt werden.
An dieser Frist scheitern aktuell jedoch viele Asylsuchenden. Wer in Dreck und Morast von Moria und anderen Hotspots festsitzt, hat kaum Zugang zu rechtlichen Strukturen. Und Deutschland lehnt Übernahmeersuche von Familienangehörigen aus Griechenland mittlerweile systematisch mit der Begründung, die Fristen seien bereits abgelaufen, ab.
Insbesondere problematisch: Es geht überwiegend um Menschen, die in den Elendslagern auf den Inseln festsitzen – und die aufgrund von engen Familienangehörigen einen Rechtsanspruch auf ein Asylverfahren in Deutschland hätten. Die überwältigende Mehrheit der Übernahmeersuche aus Griechenland ist auf die Zusammenführung von Familienangehörigen zurückzuführen, 2019 waren dies 86% aller Ersuche, 2018 sogar 90%.
Häufig versäumen griechische Behörden in der Praxis Fristen und stellen die Übernahmegesuche zu spät. Das BAMF stellt in diese Fällen die Einhaltung von Fristen regelmäßig höher als die Einheit von Familien. Dauerhafte Trennungen sind die Folge. Spätestens jetzt muss die lange überfällige, schnelle und unbürokratische Familienzusammenführung von Schutzsuchenden in Griechenland mit ihren Verwandten in Deutschland umgesetzt werden.
Im Bericht »Refugee Families Torn Apart« von PRO ASYL und RSA wird diese systematische Aushebelung des Familiennachzugs dokumentiert.
Hintergrundinformationen zur Situation im Lager Moria auf der Insel Lesbos
Während auch in Griechenland das öffentliche Leben stillgelegt ist, um körperlichen Kontakt zu minimieren und damit der Ausbreitung von Covid-19 entgegen zu treten, müssen seit Mitte März 2020 rund 41.000 Schutzsuchende in meist informellen Unterkünften innerhalb und außerhalb der fünf EU-Hotspots auf den ägäischen Inseln ausharren. Über die Hälfte sind Frauen, Kinder und Jugendliche.
Das Lager Moria auf Lesbos ist ein einziger Albtraum: Ende Januar 2020 gab es dort drei Ärzte, acht Krankenschwestern und sieben Dolmetscher für knapp 20.000 Menschen. In Teilen des Lagers müssen sich bis zu 500 Personen eine Dusche teilen. Zwischen September 2019 und Januar 2020 wurden sieben Todesfälle bestätigt. Es keinen ernstzunehmenden Notfallplan für den Fall, dass Covid-19 das Lager erreicht. Simple Präventionsmaßnahmen wie regelmäßiges Händewaschen können nicht eingehalten werden. Risikogruppen, etwa ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen, können sich zum Schutz nicht selbst isolieren. Es droht eine rasante Ausbreitung des Virus. Um die Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern, hat die griechische Regierung eine teilweise Ausgangssperre für Moria Hotspots verhängt.
Pressemitteilung vom 17.04.2020 als pdf
Weitere Forderungen des Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt:
Unsere Pressemitteilung vom 27.03.2020
Unsere Pressemitteilung vom 19.03.2020
Gemeinsamer Appell bundesweiter Akteur*innen vom 20.03.2020
Pressekontakt:
Stefanie Mürbe | Tel.: 0391 50549613 | stefanie.muerbe@fluechtlingsrat-lsa.de